Im Gespräch: Antje Schneeweiß zu ihrem Vorschlag für eine soziale Taxonomie

„Entscheidend ist das Kriterium der Zugänglichkeit“

Die EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten ist bereits relativ weit entwickelt und nächste Schritte stehen an. Jedoch formuliert sie bislang ausschließlich ökologische Ziele. Ein soziale Taxonomie ist daher – auch von CRIC – vielfach gefordert worden. Nun hat Antje Schneeweiß, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Südwind, dafür einen Entwurf vorgelegt.

CRIC: Frau Schneeweiß, Sie haben am 18. Juni 2020, dem Tag, an dem das EU-Parlament für die Taxonomie-Verordnung gestimmt hat, einen Vorschlag für eine soziale Taxonomie präsentiert. Wie stark orientiert sich dieser am aktuellen Konzept der Taxonomie für ökologisch-nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten? 

Schneeweiß: Der Vorschlag ist in vielerlei Hinsicht spiegelbildlich zu verstehen. So sind auch hier sowohl Risikobranchen als auch sozial nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten berücksichtigt. Es ist wichtig, zu schauen, wo die sozialen Chancen liegen und genauso, in welchen Sektoren die größten Risiken für Menschenrechtsverletzungen bestehen. Auch das Konzept der Schwellenwerte kann auf soziale Themen übertragen werden, beispielsweise indem man ein besonderes Engagement in den Bereichen Existenzlohn und Existenzeinkommen sowie Beschwerdemechanismus einfordert. Dies sind beides Themen, in denen Fortschritte schwer zu erzielen sind, die aber ein hohes Potential für Verbesserungen bergen. Im Bereich der sozialen Chancen ist es für mich unumgänglich, das Thema „Zugänglichkeit zur sozialen Produkten und Dienstleistungen“ als Schwellenwert zu definieren. 

Zudem sind – analog zu den ökologischen DNSH-Kriterien* – soziale DNSH-Kriterien vorgesehen. Denn auch im sozialen Bereich ist darauf zu achten, dass ein sozial nachhaltiger Bereich nicht einem anderen schadet. Ein Beispiel: Gesundheitsprodukte sind in sozialer Hinsicht positiv zu bewerten. Wenn aber für die Entwicklung von Medikamenten Tests an Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern durchgeführt wurden, sind andere soziale Themen berührt. Hier kämen soziale DNSH-Kriterien ins Spiel. Im Gegensatz zu ökologischen DNSH-Kriterien, wo vielfach Quantifizierungen möglich und sinnvoll sind, wären hier aber sicher an vielen Stellen qualitative Kriterien erforderlich. 

Schließlich ist es sinnvoll, nach dem Vorbild der sozialen Mindestkriterien in der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie auch ökologische Mindestkriterien für die soziale Taxonomie bestimmen. 

CRIC: Wie sozial ist die ökologisch-nachhaltige Taxonomie bereits in ihrer aktuellen Ausgestaltung?  

Schneeweiß: Ein wichtiger Befund ist, dass schon die ökologischen DNSH-Kriterien soziale Themen berühren. Die DNSH-Kriterien in der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie beziehen sich oft auf EU-Verordnungen, beispielsweise auf REACH, eine Chemikalienverordnung. Diese wirkt sich auf ökologische Faktoren aus, aber zugleich ebenso auf Themen wie Arbeitsschutz und den Schutz der angrenzenden Bevölkerung vor den Auswirkungen von Verunreinigungen. Ein weiteres Beispiel: Für die Bereiche Palmöl und Wasserkraft definiert die Taxonomie in ihrer aktuellen Form die Standards 1 und 6 der IFC, der International Finance Corporation. IFC-Standard 1 berücksichtigt explizit soziale Themen, die damit über die ökologischen DNSH-Kriterien abgedeckt sind. 

Allerdings sind Themen, wie sie die ILO-Kernarbeitsnormen enthalten – Kinderarbeit, Vereinigungsfreiheit, Zwangsarbeit usw. – nicht berücksichtigt. Hier kommen die sozialen Mindestkriterien ins Spiel. Diese sind in der aktuellen Version der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie enthalten und in der Verordnung vorgesehen, aber noch nicht genauer ausgearbeitet. Sicher wird hier noch weiter spezifiziert. 

Es bleiben aber Fragen. Die Taxonomie-Verordnung sieht vor, dass sich die sozialen Mindestkriterien unter anderem an den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen orientieren. Hier ist zu bestimmen, wie streng die Umsetzung sein soll. Einerseits ist ein hohes Ambitionsniveau zu begrüßen, andererseits muss ein an der aktuellen Realität orientierter pragmatischer Ansatz gefunden werden. 

Ein weiterer Punkt betrifft die Methodik. Die ökologisch-nachhaltige Taxonomie bezieht sich auf Wirtschaftstätigkeiten. Gerade Menschenrechtsthemen – und damit auch die sozialen Mindeststandards – betreffen aber häufig das gesamte Unternehmen oder wirtschaftliche Einheiten wie eine Fabrik. Was für ökologisch-nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten möglich und sogar sehr sinnvoll ist, kann nicht ohne Weiteres auf den sozialen Bereich übertragen werden. 

CRIC: Bedeutet dies, dass eine sozial-nachhaltige Taxonomie sich auf Unternehmen anstatt auf Wirtschaftstätigkeiten beziehen muss?  

Schneeweiß: Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Für die sozialen Risikobranchen, etwa den Bergbau oder die Automobilindustrie, ist eine Umsetzung nach Wirtschaftstätigkeiten aus oben genanntem Grund weitestgehend nicht möglich.

Für sozial-nachhaltige Bereiche ist eine Umsetzung analog der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie nach Wirtschaftstätigkeiten ggf. umsetzbar – beispielsweise könnten Wirtschaftstätigkeiten aus der Medizintechnik-Sparte von Siemens als sozial-nachhaltig definiert werden. 

Es scheint – auch mit Blick auf die sozialen Mindeststandards in der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie – sinnvoll, eine Zwischenebene zu finden. Beispielsweise könnte ein Bekleidungsunternehmen ökologisch-nachhaltig und unter Einhaltung aller Menschenrechtstandards in Europa produzieren. In einem Werk in der Türkei wäre aber etwa die Vereinigungsfreiheit nicht gewährleistet. Die Bewertung könnte dann auf dieser Ebene ansetzen – sodass eine Differenzierung innerhalb des Unternehmens möglich bleibt. 

CRIC: In den Diskussionen um eine soziale Taxonomie ist teilweise der Einwand zu hören, diese würde viele Bereiche betreffen, die stark von der öffentlichen Hand finanziert werden und auch weiterhin von dieser finanziert werden sollten – etwa der Gesundheits- oder Bildungsbereich. Inwieweit spielen derartige Fragen in den Vorschlag für eine soziale Taxonomie hinein?   

Schneeweiß: Diesen Einwand kann ich gut verstehen. Als ich mir darüber Gedanken gemacht habe, ist mir das Beispiel Brasilien eingefallen. Dort ist die tertiäre Bildung so organisiert, dass nur bestimmte Universitäten, meist mit einem Forschungsschwerpunkt, öffentlich finanziert sind. Die Masse an Studienplätzen wird aber privat in Kombination mit Unterstützungs- und Stipendien-Programmen angeboten. Grund sind begrenzte Haushaltsmittel. Hier wurde bewusst die Entscheidung getroffen, zunächst schwerpunktmäßig die primäre und sekundäre Bildung öffentlich zu finanzieren, damit nicht auf Kosten der meist ärmeren Bevölkerung die höhere universitäre Bildung finanziert wird. 

Abhängig von den Rahmenbedingungen kann also eine Kombination aus öffentlicher und privater Finanzierung sinnvoll sein. Zudem eignet sich auch bereits die ökologisch-nachhaltige Taxonomie dafür, nicht nur dem privaten Sektor, sondern auch der öffentlichen Hand eine Orientierung für Mittelverwendungen zu geben, etwa im Zusammenhang mit den COVID-19-Konjunkturprogrammen. 

Ein weiterer Punkt ist von zentraler Bedeutung: Bereiche wie Gesundheitsdienstleistungen sind nicht per se sozial. Entscheidend ist das Kriterium der Zugänglichkeit. In Südafrika zum Beispiel gibt es börsennotierte Unternehmen, die Krankenhäuser unterhalten. Diese sind aber nur bestimmten Bevölkerungsgruppen zugänglich. Nach unserem Vorschlag für eine soziale Taxonomie würden sich diese Unternehmen bzw. deren Wirtschaftstätigkeiten nicht für die soziale Taxonomie qualifizieren. 

CRIC: Gerade aus der für soziale Themen wichtigen Entwicklungsperspektive scheint es von großer Bedeutung zu sein, dass sowohl die ökologisch-nachhaltige als auch die sozial-nachhaltige Taxonomie für Wirtschaftstätigkeiten von Unternehmen aus den entsprechenden Ländern zugänglich ist. Inwieweit ist dies der Fall?  

Schneeweiß: Tatsächlich ist die aktuell bestehende Taxonomie sehr auf Europa ausgerichtet. Unternehmen aus Entwicklungs- und Schwellenländern, aber eventuell auch aus den USA, haben es schwerer, mit ihren Wirtschaftstätigkeiten aufgenommen zu werden. Ein Grund dafür ist, dass sich die DNSH-Kriterien, wie oben beschrieben, stark an EU-Verordnungen orientieren. 

Die soziale Taxonomie, so wie wir sie vorschlagen, würde andererseits vor allem in den Risikobranchen gerade Maßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern einfordern. 

CRIC: Bedeutet dies, dass ein Bedarf an Internationalisierung bezüglich der Taxonomie besteht?  

Schneeweiß: Tatsächlich besteht ein solcher Bedarf. Zum Beispiel ist bei vielen Unternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern die Berichterstattung zu Nachhaltigkeitsthemen weniger ausgebaut, auch wenn die Wirtschaftstätigkeiten an sich vielversprechend sind. Hier könnte zum aktuellen Zeitpunkt ein pragmatischer Ansatz sein, für bestimmte Länder oder Regionen zu erlauben, eher qualitativ und über Dialoge die notwendigen Informationen zu gewinnen. 

CRIC: Wenn die soziale Taxonomie letztlich vorliegt: Wie sollte sie angewendet werden – ganz analog zur ökologisch-nachhaltigen?  

Schneeweiß: Ja. Bezüglich der Anwendung sehe ich keine Unterschiede zur ökologisch-nachhaltigen Taxonomie. Beispielsweise wäre es sinnvoll, auch einen Social Bond-Standard zu entwickeln, der sich – genau wie der Green Bond Standard an der ökologisch-nachhaltigen – an der sozial-nachhaltigen Taxonomie orientieren würde. 

CRIC: In der ökologisch-nachhaltigen Taxonomie sind sechs Ziele – Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme – definiert. Welche Ziele würde die sozial-nachhaltige Taxonomie enthalten?  

Schneeweiß: Grundsätzlich bieten sich die UN-Nachhaltigkeitsziele als Orientierung an. Konkrete Ziele sind in meinem Vorschlag nicht ausgearbeitet, dies wäre aber sinnvoll. Mit Blick auf die sozialen Risikobranchen habe ich aber drei zentrale Kriterien aus den UN-Leitlinien für Wirtschaft und Menschenrechte gewählt, nämlich Existenzlohn, Vereinigungsfreiheit und Wiedergutmachung. Substanzielle Fortschritte in diesen drei Bereichen würde die Lebenssituation sehr vieler Menschen deutlich verbessern.   

CRIC: Ihr Vorschlag liest sich so, dass es künftig zwei Taxonomien geben wird – eine soziale und eine ökologische. Wäre es nicht besser, eine einzige umfassend nachhaltige Taxonomie zu haben?  

Schneeweiß: Wenn ich mir die Risikobranchen in der ökologisch-nachhaltigen und in meinem Vorschlag für eine sozial-nachhaltige anschaue, gibt es viele Überschneidungen. Zwischen den sozial- bzw. ökologisch-nachhaltigen Branchen dagegen kaum. Würde nur die Schnittmenge genommen werden, blieben wenige Unternehmen und Wirtschaftstätigkeiten übrig, was im Sinne einer ökologisch-sozialen Transformation unserer Wirtschaft vermutlich eher kontraproduktiv wäre.

CRIC: Die Taxonomie-Verordnung nimmt zwar Bezug auf eine mögliche Ausweitung der Taxonomie auf soziale und anderen Nachhaltigkeitsthemen, sieht dies aber nicht explizit vor. Wird es nach Ihrer Einschätzung eine soziale Taxonomie geben?  

Schneeweiß: Davon gehe ich fest aus. Wir werden eine soziale Taxonomie bekommen. Die Frage ist aus meiner Sicht eher das Wann und Wie als das Ob. 

CRIC: In der Diskussion ist außerdem eine so genannte „braune“ Taxonomie – ein Klassifikationssystem für ökologisch nicht-nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten. Ist dieses Konzept sinnvoll auf den sozialen Bereich zu übertragen?  

Spontan würden mir als sozial nicht-nachhaltige Bereiche Tabak und geächtete Waffen einfallen. Dann wird es auch schon schwieriger. Themen wie Korruption oder Geldwäsche, die inhaltlich dazu gehören, sind meist regulatorisch abgedeckt. 

Ökologisch nicht-nachhaltige Tätigkeiten sind leichter zu bestimmen, weil hier auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegriffen werden kann und oftmals auch quantifizierbare Vorgaben abgeleitet werden können. Im sozialen Bereich kommen Werturteile stärker zum Tragen. 

CRIC: Vielen Dank für das Gespräch!          

Das Interview führte Gesa Vögele.                

 * DNSH steht für Do no Significant Harm. Die Taxonomie-Verordnung sieht vor, dass ökonomische Tätigkeiten, die einen substanziellen Beitrag zu einem der sechs ökologischen Ziele der Taxonomie leisten, darauf hin überprüft werden müssen, ob sie eines oder mehrere der fünf anderen Umwelt ziele substanziell schädigen.

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In der Rubrik Im Gespräch sind bereits erschienen:

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